Kerngedanken

 

Antonio Damasio: Eine Neurobiologie des Bewusstseins

Eine Zusammenfassung des Artikels von Andreas Wöller

  

A) Die Grundprobleme des Bewusstseins

B) Fakten zur Neuropsychologie des Bewusstseins

C) Organismus, Objekt und ihre Beziehung zueinande

D) Das Proto-Selbst

E) Die Konstruktion des Bewusstseins

F) Karten zweiter Ordnung

G) Schluss: Der Abschluss der Bewusstseinsbildung

F) Schluss: Abschließende Bemerkungen

Literaturangaben:
Brüntrup, G. (1996). Das Leib-Seele-Problem. Stuttgart: Kohlhammer
Damasio, A. (2000). Ich fühle, also bin ich. München: List.
Goller, H. (1996). Psychologie. Emotion, Motivation, Verhalten. Stuttgart: Kohlhammer
Newen, A. & Vogeley, K. (2000). Selbst und Gehirn. Paderborn: Mentis

 

A) Die Grundprobleme des Bewusstseins

Der Neurologe Damasio versucht das Phänomen Bewusstsein zu beschreiben. Die Frage nach dem Bewusstsein wirft zwei Probleme auf.

1) Das erste Problem ist, wie das Gehirn mentale Muster ausbildet, d.h. Vorstellungen von Objekten. Es stellt sich die Frage, wie eine Art Film im Gehirn entsteht, zu dem alle Sinne beisteuern.

Zur Lösung des Problems muss herausgefunden werden, wie neuronale Muster im Nervensystem eingebunden sind und wie sie zu mentalen Mustern bzw. Vorstellungen werden. Damasio vertritt keinen Substanzdualismus, da er sowohl mentale als auch neuronale Muster für biologische Phänomene hält.

Die Frage nach der Ausbildung mentaler Muster führt zum Problem der Qualia. Damasio hält das Qualia-Problem für ein prinzipiell durch die Neurobiologie lösbares Problem, auch wenn derzeitige Theorien noch weit von einer Klärung entfernt sind.

2) Da zweite Problem besteht darin, wie das Gehirn „im Prozess der Ausbildung mentaler Muster für ein gegebenes Objekt eine Selbstgefühl (sense of self) im Akt des Erkennens (act of knowing) des Objektes konstruiert“ (Newen/Vogeley 2000, 316). Das Gehirn konstruiert ein potentielles Handlungssubjekt, das als Eigentümer der repräsentierten Objekte auftritt.
Die Lösung des zweiten Problems liege darin, Objekte und seine Beziehungen als Gefühl geistigen Eigentums eines automatisch zugeordneten Besitzers, Beobachters, Wahrnehmenden, Wissenden, Denkenden und potentiell Handelnden (Newen/Vogeley 2000, 316f) zu begreifen. Damasio betont die Wichtigkeit einer Besitzerperspektive, die auf Objekte innerhalb und außerhalb des Körpers bezogen ist.

 

B) Fakten zur Neuropsychologie des Bewusstseins

Damasio stützt seine Theorien über das Bewusstsein auf die Untersuchung neurologisch erkrankter Personen. Aus den dazu entstandenen Studien fasst er die Daten zu fünf wichtigen Kernthesen zusammen.

1) Teile des Bewusstseinsprozesses können mit bestimmten Funktionen oder mit neuronalen Systemen des Gehirns in Verbindung gebracht werden. Damasio glaubt, dass das Selbst in einem begrenzten Gebiet im Nervensystem zu finden ist. Eine exakte Neuroanatomie des Bewusstseins hält er für wahrscheinlich.

2) Bewusstsein muss von Wachheit und von basaler Aufmerksamkeit unterschieden werden. Wachheit und Aufmerksamkeit scheinen nur notwendige Faktoren des Bewusstseins zu sein.

3) Bewusstsein und Emotion sind untrennbar miteinander verbunden. Eine enge funktionelle bzw. anatomische Verbindung ist wahrscheinlich.

4) Das Bewusstsein weist unterschiedliche Arten an Komplexität auf:

Kernbewusstsein

Erweitertes Bewusstsein

- erzeugt ein Selbstgefühl, das auf die Gegenwart beschränkt ist

- erzeugt Identität und Person, arbeitet in Vergangenheit und antizipierter Zukunft

- einfaches biologisches Phänomen, unabhängig vom Gedächtnis, von Sprache und Urteilsvermögen

- komplexes biologisches Phänomen, das sich entwickelt und vom Gedächtnis sowie von Sprache abhängt

- bildet den ersten Schritt beim Wissenserwerb

- ermöglicht die Kenntnis der Gesamtheit des Lebewesens

- unabhängig vom erweiterten Bewusstsein

- abhängig vom Kernbewusstsein

- assoziiert mit dem Kernselbst, das ständig fluktuieren für jedes Objekt neu geschaffen wird, das mit dem Gehirn interagiert

- assoziiert mit dem autobiographischen Selbst, das dem Organismus eine Identität verschafft

 

5) Für das Kernbewusstsein sind kognitive Funktionen wie z.B. Sprache nicht notwendig. Erst höhere Ebenen des erweiterten Bewusstsein sind auf kognitive Funktionen angewiesen, was in der Vergangenheit dazu führte, dass Bewusstsein mit Hilfe von z.B. Sprache zu erklären versucht wurde.

Dem Bewusstsein geht eine basale Aufmerksamkeit voraus. Eine Theorie des Bewusstseins sollte jedoch nicht nur erklären, wie das Gehirn seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt richtet. Ebenso sind einheitliche mentale Szenen ein wichtiges Merkmal des Bewusstseins. Eine Bewusstseinstheorie kann sich jedoch nicht nur auf die Erzeugung mentaler Szenen stützen.

Damasio schlägt vor, sich auf das Problem des Selbst zu konzentrieren. Die Frage nach dem Selbst ist so grundlegend, dass auch andere Aspekte des Bewusstseins (z.B. Qualia-Problem) nicht außer acht gelassen werden. Erstens sei das biologische Selbstgefühl und der Mechanismus, der dieses Gefühl konstruiert, grundlegend an der Verarbeitung von Objekten beteiligt. Zweitens ist es wahrscheinlich, dass „ein Selbstgefühlt zu haben, für Wissen im eigentlichen Sinne notwendig“ (Newen/Vogeley 2000, 321) sei. Die Erste-Person-Perspektive ist das eigentliche Rätsel und wiederum Subjektivität ist erforderlich, damit das Problem des Bewusstseins erörtert werden kann.

 

C) Organismus, Objekt und ihre Beziehung zueinander

Bewusstsein soll als Ausdruck zweier Akteure begriffen werden, dem Organismus und dem Objekt. Ihre Interaktionen schaffen eine Beziehung. „Aus dieser Perspektive entsteht Bewusstsein darin, Wissen über zwei Tatsachen zu konstruieren: Darüber, dass der Organismus in einer Relation zu einem Objekt steht und darüber, dass dieses in einer Relation stehende Objekt Veränderungen des Organismus verursacht.“ (Newen/Vogeley 2000, 321).

Die Wissenskonstruktion erfordert einen signalverarbeitenden Apparat, das Gehirn, die Fähigkeit, neuronale Muster in Vorstellungen umzuwandeln, und die Fähigkeit, „neuronale Muster und Vorstellungen seiner eigenen neuronalen Muster und Vorstellungen zu erzeugen“ (Newen/Vogeley 2000, 321). Die neuronalen Muster entstehen als Stellvertreter von Organismus, Objekt und deren Beziehungen. Das Verständnis der Biologie des Bewusstseins liegt darin, „wie das Gehirn neuronale Muster erzeugen kann, die beides, d.h. die Hauptakteure und deren Verhältnis zueinander, abbilden“ (Newen/Vogeley 2000, 322).

Damasio nimmt zwei grundlegende Tatsachen an:

1)      Neuronale Karten von Objekten oder Organismus lassen sich neuroanatomisch unterscheiden.

2)      Die Karten von Objekt und Organismus sind asymmetrisch.

 

Im Falle eines externen Objekts erzeugt das Gehirn Karten, d.h. Abbilder oder neuronale Muster von der Interaktion des Objekts mit dem Organismus. Das Objekt kann auf zwei Weisen abgebildet werden: als aktuell mit dem Organismus interagierendes oder als wiedererinnertes Objekt.

Auf der Seite des Organismus hat das Gehirn bereits eine Anzahl von Karten, die den Organismus repräsentieren. Die Anzahl möglicher Repräsentationen ist sehr begrenzt, da der Körper nur innerhalb sehr schmaler Parameter funktionieren kann.

Dieses stabile Modell des Körpers hält Damasio für den biologischen Vorläufer des Selbstgefühls: „Ich glaube, dass die tieferen Wurzeln für das Gefühl, das wir unter den Begriff des Selbst einordnen, einschließlich des komplexen Selbst, welches Identität und Personalität umfasst, in einer Ansammlung von Hirnmechanismen zu finden sind, die den Körperzustand innerhalb enger Grenzen und einer relativen Stabilität halten, die zum Überleben notwendig ist“ (Newen/Vogeley 2000, 323). Die Homöostase des Körpers wird durch diese Mechanismen unbewusst und kontinuierlich repräsentiert. Die Interaktion der Mechanismen bilden die Grundlage des Proto-Selbst. Das Proto-Selbst ist die „unbewusste Grundlage für die verschiedenen Ebenen des Selbst, welche in unserem Geist als die unbewussten Protagonisten des Bewusstseins erscheinen: das Kernselbst und das autobiographische Selbst“ (Newen/Vogeley 2000, 323).

Damasio lehnt eine Interpretation des Selbst im Sinne eines Homunkulus, der das Bewusstsein letztlich konstituiert, ab. Das Proto-Selbst, Kern-Selbst und erweiterte Selbst sind zwar Bezugspunkte im Bewusstseinsprozess und wesentlich für unser Erfahren, aber nicht die Erzeuger des Bewusstseins.

 

D) Das Proto-Selbst

Mehrere neuroanatomische Strukturen wirken für das Protoselbst zusammen. Aus den mit dem Proto-Selbst verknüpften Aufgaben, wie der Regulation der Homöostase und der Signalübertragung zwischen Körper und Gehirn, lassen sich diese Strukturen aufklären:.

1)      Hirnstammkerne: Nuclei parabrachiales und periaquäduktales Höhlengrau

2)      Hypothalamus

3)      Basales Vorderhirn

4)      Somatosensorische, kortikale Areale: Insula, S2

Damasio lehnt eine einfache Lokalisation des Proto-Selbst in den beschriebenen Arealen ab. Die Areale sind nicht die Erzeuger der Proto-Selbst und auch nicht der Ort des Proto-Selbst. Das Proto-Selbst ist vielmehr ein Produkt ihres Zusammenspiels.

 

E) Die Konstruktion des Bewusstseins

Damasio ist der Meinung, dass die Konstruktion des Bewusstseins in drei Schritten erfolgt.

1) Zuerst wird die Interaktion von Organismus und Objekt dargestellt. „Diese kartenähnliche Repräsentation gleicht einer einfachen Erzählung ohne Worte, die dem Selbstgefühl – dem Gefühl des wissenden Selbst – erlaubt, als offensichtlicher Protagonist dieser Ereignisse aufzutreten, als Subjekt, das durch natürliche kausale Beziehungen durch das Objekt verändert wird“ (Newen/Vogeley 2000, 325). Die Repräsentation tritt nur für Sekundenbruchteile auf, wird aber ständig durch neu auftretende Objekte erzeugt.

2) Im zweiten Schritt werden bereits früher erfahrene Objekte reaktiviert und im Kernbewusstsein verarbeitet. Dazu ist es erforderlich, dass Objekte in autobiographischen Erinnerungen gespeichert wurden. Immer wenn ein Objekt verarbeitet wird, können Erinnerungen herangezogen werden. Diese Möglichkeit ist die Basis des erweiterten Bewusstseins, in dem „kartenähnliche Repräsentationen von den Relationen zwischen Organismus und Objekt“ (Newen/Vogeley 2000, 325) erzeugt werden. Im Fortschritt dieses Prozesses entsteht das autobiographische Selbst.

3) Im letzten Schritt konstituiert sich eine vereinheitliche Besitzerperspektive, von der die Objekte gewusst werden. Die „wiederholt aufgerufenen Komponenten des autobiographischen Selbst und des Objekts werden durch das Gefühl eines wissenden Selbst berührt, das im Kernbewusstsein entsteht“ (Newen/Vogeley 2000, 325).

 

Der Organismus erzeugt für Objekte, mit denen er interagiert, zunächst Karten erster Ordnung. In diesen Karten werden alle Parameter der Objekte, wie z.B. Form, Farbe, Ton usw., in neuronalen Schaltkreisen gespeichert. Zu diesen Karten erstellt der Organismus zusätzlich Karten erster Ordnung für Bewegungen. Diese dienen dazu, den Körper auf das Objekt auszurichten, so dass er es erkennen kann sowie eine Grundlage für emotionale Reaktionen zu schaffen. Alle Karten erster Ordnung bilden einen Fluss mentaler Vorstellungen. Dieser Fluss reicht jedoch für das Bewusstsein allein nicht aus. Der Organismus muss zusätzlich wissen, dass er über Vorstellungen verfügt.

Dieses Wissen erlangt der Organismus in den Karten zweiter Ordnung. Sie erstellen Vorstellungsbilder, in dem sie die Interaktion des Proto-Selbst mit dem Objekt beschreiben. Damasio ist der Meinung, dass „ein bedeutsamer Teil dessen, was wir Bewusstsein nennen durch die Vorstellungen erzeugt wird, welche die Karten zweiter Ordnung in Form eines Gefühls eines wissenden Selbst zum Geist beitragen“ (Newen/Vogeley 2000, 326). Bewusstsein besteht folglich aus „neu konstruiertem Wissen über ein bestimmtes Thema, wenn man so will Information, die in den natürlichen Prozess der Konstruktion von Vorstellungen eingebaut wird“ (Newen/Vogeley 2000, 326).

Das Proto-Selbst und Karten zweiter Ordnung arbeiten mit Körpersignalen, d.h. sie verfassen einen nichtsprachlichen Bericht. Die Vorstellungen werden in Gefühlen angelegt. „Wissen beginnt als ein Gefühl, da sein Substrat aus körperlichen Signalen aufgebaut ist.“ (Newen/Vogeley 2000, 327).

Damit lässt sich auch das Gefühl der direkten Urheberschaft der eigenen Gedanken erklären. Die Gedanken gehören so unmittelbar dem Organismus, da sie grundlegend die Interaktion von Organismus und Objekt mit Gefühlen beschreiben. Von diesem Bericht nehmen Wissen und das Selbstgefühl seinen Ursprung.

 

F) Karten zweiter Ordnung

Mehrere Areale des Gehirns kommen auf Grund ihres neuroanatomischen Aufbaus in Frage, an der Konstruktion von Karten zweiter Ordnung beizutragen:

1)      Colliculi superior

2)      Thalamus

3)      Zingulärer Kortex

4)      Teile des medialen, parietalen Assoziationskortex 

5)      Präfrontaler Kortex

 

Besonders dem zingulären Kortex und dem Thalamus scheinen wichtige Funktionen zuzukommen. Alle Regionen sind vernetzt und kommunizieren stark miteinander.

 

G) Der Abschluss der Bewusstseinsbildung

Die Bildung des Bewusstseins wird durch eine weitere Integration der neuronalen Muster der Objekte vollendet. Es wir ein „vereinheitlichtes Bewusstseinsfeld“ (Newen/Vogeley 2000, 328) geschaffen, d.h. „eine klare mentale Vorstellung des Objekts innerhalb seines räumlichen und zeitlichen Kontexts und im Kontext des ‚Selbst’“ (ebd.). Das Kernbewusstsein, das bei diesem Prozess insgesamt entsteht, hat Vorstellungen über zwei Bestandteile: eine Vorstellung über ein wissendes Selbst und eine Vorstellung über das verursachende Objekt.

Das Kernbewusstsein entsteht kontinuierlich und hat einen pulsartigen Charakter, den wir jedoch nicht wahrnehmen können. Für jede Interaktion mit einem Objekt bildet sich Kernbewusstsein für Bruchteile von Sekunden neu heraus. Dieser Prozess erfolgt in einem nichtsprachlichen Bericht.

 

F) Abschließende Bemerkungen

Bemerkenswert ist, dass das Bewusstsein entscheidend von evolutionär älteren Hirnregionen abhängt. Diese Regionen dienen überwiegend der Homöostase und der Repräsentation des Organismus. Auch evolutionär jüngere, neokortikale Regionen sind an der Erzeugung des Bewusstseins beteiligt. Eine Schädigung dieser Bereiche führt jedoch nicht zur Schädigung des Kernbewusstseins.

Es gibt eine auffällige, aber bisher nicht beachtete Überlappung der biologische Funktionen in den neuroanatomischen Strukturen. Sie dienen überwiegend

1)      der Regulation des Homöostase, einschließlich der Informationsverarbeitung von Signalen wie z.B. Schmerz, Freude usw.

2)      emotionalen Prozessen

3)      Aufmerksamkeits- und Wachheitsprozessen

4)      dem Lernprozess

Damasio meint, dass benachbarte Gebiete, unter umständen sogar dieselbe Region verschiedene, aber sinnvoll miteinander verbundene Aufgabe haben. Ein Beispiel wäre z.B. die Verbindung von Körperrepräsentation und Regulierung des Körpermilieus. Deshalb plädiert Damasio für eine umfassendere neurobiologische Perspektive, um sich dem Bewusstsein wissenschaftlich zu nähern. 

 

Home | Bereich Philosophie | Psychiatrie und Psychosomatik | knowledge | Suchen | Lebenslauf

 Bitte Copyright beachten.
Bei Fragen oder Unklarheiten im Zusammenhang mit dieser Website, wenden Sie sich bitte an post@andreas-woeller.de
Stand: 09. Oktober 2002.