Die dianoethischen Tugenden

 

Andreas Wöller

Steinhauserstr. 25

81677 München

 

 

 

 

 

Die dianoethischen Tugenden nach NE VI 3-9

 

 

Anfangs des sechsten Buches greift Aristoteles die dianoethisch-ethische Tugendlehre auf, die er erstmals im ersten Buch im Kapitel dreizehn vorgestellt hat. Nach der Unterteilung der Seele in ein rationales und ein irrationales Element ordnet er dem irrationalen Seelenteil die ethischen und dem rationalen Seelenteil die dianoethischen Tugenden zu. Die ethischen Tugenden werden im Buch zwei bis fünf abgehandelt, die dianoethischen stehen im sechsten Buch zur Disposition.

 

Der rationale Seelenteil wird von Aristoteles in zwei Elemente untergliedert. Sie sind auf zwei verschiedene Existenzformen bezogen. Erst dadurch ist Erkenntnis möglich, da sich „der Erkenntnisvorgang [...] auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit dem  Erkenntnisgegenstand vollzieht.“[1]. Der erste Teil bzw. Teil der veränderlichen Betrachtung hat die „abwägende Reflexion“ (NE, 1969, 1139a 1-22) bzw. „das mit sich zu Rate gehen“ als Aufgabe. Der andere Teil der unveränderlichen Betrachtung wird als „spekulativer Teil“ bezeichnet (alle Zitate ebd.)

 

Aufgabe des rationalen Seelenteils ist im Allgemeinen die Erkenntnis des Richtigen, an der sich der Mensch orientieren soll. Richtige Erkenntnis wird an Hand von fünf Grundformen vollzogen: Technae (dt. praktisches Können/Kunst), Phronesis (dt. sittliche Einsicht/ Klugheit), Sophia (dt. philosophische Weisheit/ Weisheit), Nous (dt. intuitiver Verstand/ Geist) und Episteme (dt. wissenschaftliche Erkenntnis/ Wissenschaft). Durch die fünf Grundformen wird der Mensch niemals getäuscht, wenn er ihnen in richtiger Weise folgt. Als notwendiges Instrumentarium für die angestrebte Wahrheitsfindung werden sie im Einzelnen analysiert.

 

Zunächst setzt sich Aristoteles mit dem Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis auseinander. Ihre Methode zur Wahrheitsfindung ist apodiktisch: Sie kennzeichnet sich durch exakte Ausdrucksweise und durch Ausschließen anderer Möglichkeiten. Auf Grund der apodiktischen Methode sind alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Erkenntnis notwendig. Daraus ergibt sich ein Charakter der Ewigkeit, da absolut richtige Ergebnisse auch immer gelten müssen. Aus diesem Grund leitet sich die Existenz einer wissenschaftlichen Lehre ab. Einmal gewonnene Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Erkenntnis verändern sich nicht mehr und können an andere weitergegeben bzw. gelehrt werden.

Wissenschaftliches Lehren geschieht nach einer Definition aus der Analytica posteriora durch die klassisch-logisch Verfahren wie Induktion und Syllogismus. Durch Induktion werden einzelne Ergebnisse zu einem allgemeinen Ergebnis bzw. einer allgemeinen Lehre zusammengefaßt. Durch den Syllogismus werden im Gegenteil aus einer allgemeinen Erkenntnis oder Lehre einzelne Resultate abgeleitet. Methodisch handelt es sich hier um ein deduktives Verfahren.

Ein System aus Syllogismen und Induktionen baut auf  zwei unabdingbaren Voraussetzungen auf. Zum einen dürfen verwendete Ausgangspunkte nur gesichertes Wissen enthalten, da sonst die Wahrheit der gezogenen Schlüsse nicht gewährleistet ist. Ausgangspunkte ohne gesichertes Wissen können zwar zu formal richtigen Schlüssen führen, jedoch ist damit über den Wahrheitsgehalt solcher Schlüsse nichts ausgesagt. Man spricht in diesem Zusammenhang vom akzidentiellen Charakter solche Schlüsse.

Zum anderen darf die wissenschaftliche Erkenntnis sich nur mit Objekten beschäftigen, die keine Veränderung zulassen, da sonst die ewige Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht garantiert werden kann. Auf dieses Merkmal kommt Aristoteles später zurück, um das praktische Können und die sittliche Einsicht von der Wissenschaftlichen Erkenntnis abzugrenzen.

Zusammenfassend schlägt Aristoteles folgende Definition vor: „Das wissenschaftliche Erkennen ist folglich die zu einer Grundhaltung verfestigte Fähigkeit, bündige Schlüsse zu ziehen – und dazu kommt dann alles, was wir außerdem noch in der Analytik [Anm.: Analytica posteriora, s.o.] zur Begriffsklärung beibringen“ (NE, 1969, 1139b 25 – 1140a 9).

Der antike Wissenschaftsbegriff unterscheidet sich also deutlich von unserem heutigen, in dem z.b. in Naturwissenschaften oft der experimentelle Beweis als Maßstab für die wissenschaftliche Richtigkeit gilt und nicht formal-logische Verfahren.

 

Das praktische Können grenzt sich von der wissenschaftlichen Erkenntnis durch die Verschiedenheit seiner Objekte ab. Anders als bei der Wissenschaft, deren Objekte keine Veränderung zulassen, sind die Objekte des praktischen Könnens veränderlich.

Zunächst differenziert Aristoteles den Unterschied zwischen Hevorbringen und Handeln. Beide Grundhaltungen verhalten sich zueinander wie Gegenstücke, d.h. „[...] keines [ist] im anderen mit enthalten“ (NE, 1969, 1139b 25 – 1140a 9). Aristoteles verweist in diesem Zusammenhang auf die exoterischen Schriften, „eine Sammlung von Definitionen und Begriffsunterscheidungen zu propädeutischen Zwecken“, die jedoch verloren gegangen ist (NE, 1969, S. 309).

Im Mittelpunkt des praktischen Könnens steht der Schaffensprozeß. Aristoteles definiert diesen als „ein auf das Hervorbringen abzielende, reflektierende Verhalten“ (NE, 1969, 1139b 25 – 1140a 9). Dabei entsteht z.b. ein neuer Gegenstand. Die Menschen sind nach Aristoteles angewiesen, Ausschau zu halten, wie etwas entstehen könne, was da sein und auch nicht sein könne (NE, 1969, 1140a 9 – 30). Dadurch soll der Mensch lernen, wie etwas hergestellt wird und ob es hergestellt werden kann. Der Mensch muß folglich auch die richtige Planung lernen, um den Schaffensprozeß vorausschauend lenken und komplexere Aufgaben erledigen zu können. Die Produkte des Schaffensprozesses haben ihren Ursprung bzw. Existenzgrund im Menschen und nicht in sich selbst. An Hand dieses Gedankengangs wird deutlich, daß die Produkte des praktischen Könnens nicht zu den notwendig bzw. natürlich existenten oder entstehenden Objekten gehören, sondern daß sie vom Menschen geschaffen und deshalb veränderlich sind.

Ein treffendes Beispiel für das praktische Können, das Bauen, gibt Aristoteles selbst an. Im Mittelpunkt steht die Entstehung eines Gebäudes. Noch vor der praktischen, hervorbringenden Ausübung der Bautätigkeit soll der Arbeiter sehen, wie jeder Gebäudeteil, z.b. ein Torbogen durch die wechselseitige Abstützung der Steine, entsteht. Dabei kann er selbst neue, bessere Möglichkeiten für das Bauen (er-)finden. Der Existenzgrund des neuen Gebäudes liegt im Menschen. Als Urheber hat er es geschaffen.

In besonderem Verhältnis stehen praktisches Können (=Kunst) und der Zufall. Sie bewirken oft denselben Effekt bzw. kommen zum gleichen Ergebnis. Deswegen zitiert Aristoteles an dieser Stelle auch den tragischen Dichter Agathon: „Kunst liebt den Zufall, dieser wieder liebt die Kunst“ (NE, 1969, 1140a 9 – 30). Dirlmeier gibt als Beispiel dazu die Gesundheit an, die sich durch die Kunst eines Arztes oder durch Zufall einstellen könne.[2]

 

Um die Klugheit (sittliche Einsicht) zu charakterisieren, verwendet Aristoteles ein bei ihm beliebtes Verfahren, das er auch schon bei den ethischen Tugenden angewendet hat. Er leitet die Klugheit an Hand der Merkmale eines klugen Menschen ab. Dieser kann den Nutzen und Wert von Dingen aus seiner Umwelt richtig einschätzen, ob sie für seine Person glückbringend sind oder nicht. Dabei hat er immer seine gesamte Umwelt im Blickfeld und konzentriert sich nicht zu sehr auf einzelne Dinge, die nur Mittel zu seinem Glück sind. Als Beispiel führt Aristoteles hier Gesundheit und Kraft an, die für sich allein den Menschen nicht glücklich machen, jedoch als Bausteine zu einem glücklichen Leben beitragen. Aristoteles bezeichnet Menschen als klug, „wenn sie sich also klug abwägend verhalten haben in Hinsicht auf ein wertvolles Endziel“ (ebd.). Durch ihr umsichtiges Verhalten kommen diese Menschen ihrem individuellen Glück näher. Zusammenfassend stellt Aristoteles fest: „sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt“ (NE, 1969, 1140a 30 – b 15). Im täglichen Leben hält Aristoteles die Menschen für klug, die „zur Verwaltung des Hauses und des Gemeinwesens tüchtig sind“ (ebd.).

Um die Klugheit noch genauer zu beschreiben, grenzt sie Aristoteles von der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem praktischen Können ab. Klugheit unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Erkenntnis auf Grund der Verschiedenheit der Objekte. Die nach den Gesetzen der Logik funktionierende, wissenschaftliche Erkenntnis läßt keine Veränderung ihrer Objekte zu. Klugheit hingegen beruht auf Veränderung der Objekte, da „niemand Überlegungen anstellt über das, was keine Veränderung zuläßt oder zu dessen Ausführungen er keine Möglichkeit hat.“ (ebd.). Deshalb wird die Klugheit im rationalen Seelenteil der veränderlichen Betrachtung bzw. „abwägenden Reflexion“ klassifiziert (NE, 1969, 1139a 1-22). Vom praktischen Können setzt sich die Klugheit auf Grund ihrer verschiedenen Grundhaltung ab. Das praktische Können zielt auf ein Hervorbringen, wie z.b. den dargestellten Hausbau. Die Klugheit hingegen charakterisiert sich durch das Handeln. Dieses Handeln hat das Ziel in sich selbst, nämlich das wertvolle Handeln. Da die Klugheit auf Handeln abzielt, wird sie von Überweg als „das Verbindungsglied zwischen ethischen und dianoethischen Tugenden“[3] bezeichnet. Für einen ersten Ansatz zur Definition muß folglich der Aspekt des Handelns aufgenommen werden:

 

So bleibt als Ergebnis, daß sie [die Klugheit] eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit des Handelns ist, des Handelns im Bereich dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist. Denn das Hervorbringen hat ein Endziel außer seiner selbst, beim Handeln aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel.  (NE, 1969, 1140a 30 – b 15)

 

Diese Definition wird von Aristoteles noch um einen weiteren Aspekt ergänzt. Unser Handeln soll nur auf Objekte ausgerichtet sein, die für den Menschen erreichbar sind: „So ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die sittlich Einsicht eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit ist, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar sind.“ (NE, 1969, 1140b 16-34). Im achten Kapitel wird Aristoteles die Definition der Klugheit um den Aspekt des echten Ziels erweitern.

Im Zusammenhang mit der Klugheit behandelt Aristoteles das Wort >>sophrosyne<<. Die von Aristoteles zitierte Übersetzung der Sophrosyne mit etwas, das „uns die uns sittliche Einsicht bewahrt“, ist nach Schmidt als etymologisch inkorrekt zu bewerten und stammt aus Platons Kratylos. (NE, 1969, S.331).

Dirlmeier schlägt eine Zerlegung des Wortes in So- und -phosyne vor, wörtlich übersetzt „Rettung der Phronesis“ (Grumach, 1956, S. 450). Dafür kommt die Besonnenheit in Frage, die den Menschen vor einem Urteilsverlust bewahren soll. Dieser Urteilsverlust bezieht sich nur auf die praktischen Dinge, da „durch das Erlebnis von Lust und Unlust“ „nicht jegliches Urteilsvermögen“ „zerstört oder in Verirrung gebracht [wird], z.b. nicht das Urteil, daß das Dreieck eine Winkelsumme hat“ (NE, 1969, 1140a 30 – b15).

Wissenschaftliches Urteilen wird demnach nicht durch die Lust beeinträchtigt, wohl aber Urteile im Bereich des Handelns:

 

Einem Menschen aber, der durch Lust und Unlust innerlich zerstört ist, zeigt sich schon gleich kein Ansatzpunkt des Handelns mehr und auch kein Antrieb, daß dieses bestimmte Ziel oder dieser bestimmte Grund all seine Entschlüsse und Handlungen bestimmen soll. Die Verdorbenheit nämlich ist es, die grundsätzlich die Ansatzpunkte des Handelns zerstört. (NE, 1969, 1140b 16-34)

 

Aristoteles ordnet die Klugheit im rationalen Seelenteil unter dem Teil der veränderlichen Betrachtung bzw. dem meinenden Teil ein, da die Meinung über Objekte der Klugheit veränderlich ist. Die Klugheit stellt einen Wesensvorzug und nicht nur „eine vom Planen geleitete Fähigkeit“ (ebd.) dar. Deshalb gibt es bei der Klugheit auch keine absolute Vollendung wie z.b. beim praktischen Können. Aus demselben Grund sind Fehler, die mit Absicht geschehen, beim praktischen Können weniger gravierend als bei der Klugheit, die als eine Art der sittlichen Trefflichkeit anzusehen ist. Dazu können Fähigkeiten des praktischen Könnens vergessen werden, die der sittlichen Einsicht nicht.

 

Das nächste Seelenvermögen, das Aristoteles vorstellt, ist der intuitive Verstand. Methodisch führt Aristoteles im sechsten Kapitel „in einem Eliminationsverfahren auf den intuitiven Verstand als Quelle der nicht beweisbaren Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (NE, 1969, S.332).

Das Grundproblem, das Aristoteles eingangs des sechsten Kapitels aufwirft, fragt nach der Herkunft des gesicherten Wissens, das als Basis für das System aus Deduktionen und Induktionen der wissenschaftlichen Erkenntnis dient.

Von vorn herein werden praktisches Können, sittliche Einsicht und die wissenschaftliche Erkenntnis selbst als Ursprung ausgeschlossen:

 

So kann die Ausgangsposition des wissenschaftlich Erkennbaren ihrerseits weder das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis noch des praktischen Könnens noch der sittlichen Einsicht sein. Denn das wissenschaftlich Erkennbare kann in Form zwingender Schlußfolgerung dargestellt werden, praktisches Können aber und sittliche Einsicht haben als Gegenstand ein Seiendes, das Veränderung zuläßt. (NE, 1969, 1140b 34 – 1141a 19)

 

Aristoteles schließt auch die philosophische Weisheit als Ausgangspunkt für das Grundlagenwissen aus, da die Philosophie wiederum „in manchen Fällen die Methode des zwingenden Schlußverfahrens“ (ebd.) verwendet.

Damit ist der Ursprung des Ausgangswissens festgelegt:

 

Wenn nun die seelischen Kräfte, durch die wir uns, bei der Bemühung um das Unveränderliche sowohl wie um das Veränderliche, des Richtigen bemächtigen und niemals zum Unrichtigen geführt werden, folgende sind: wissenschaftliche Erkenntnis, sittliche Einsicht, philosophische Weisheit und intuitiver Verstand; und wenn von den drei Kräften – unter den dreien verstehe ich sittliche Einsicht, wissenschaftliche Erkenntnis und philosophische Weisheit – keine in Frage kommt, so bleibt nur, daß der intuitive Verstand es ist, dessen Sache die erwähnten Ausgangssätze sind. (ebd.)

 

Schmidt merkt zu der Aufzählung der seelischen Grundhaltungen an, daß von Aristoteles das praktische Können weggelassen wurde. Dieser Widerspruch zu der von Aristoteles eingangs des dritten Kapitels gemachten Angabe, daß das praktische Können mit zu den seelischen Grundhaltungen gehört, die zur Wahrheit führen, ist nach Schmidt notwendig auf Grund der Gegenüberstellung des praktischen Könnens mit der Klugheit (NE, 1969, S.332).

In seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik äußert sich Joachim über das methodische Vorgehen von Aristoteles zur Beschreibung des intuitiven Verstands kritisch. Selbst nach Herausfinden der Aufgabe des intuitiven Verstands als die Herkunft des letzten Wissens bleibt nach dem Eliminationsverfahren letztlich die Frage, welches Wesen dem intuitiven Verstand zu eigen ist, unbeantwortet: „The argument by elimination ist not very convincing; for, even if we admit that Aristotele´s enumeration of the five states in wich we infallibly judge truly is exhaustive, the meaning of the term nous has not yet been explained.“[4]

 

Die letzte dianoethische Tugend, die Aristoteles vorstellt, ist die philosophische Weisheit. Dabei geht Aristoteles zunächst auf den traditionellen Begriff der Weisheit ein, die „im Bereiche des praktischen Könnens den vollendeten Meistern“ (NE, 1969, 1140b 34 – 1141a 19) anerkannt wird. Der Begriff der Weisheit wird dabei im Sinne der höchsten Form der technae, der Kunst, verwendet. Als Beispiel führt Aristoteles die ihre Kunst beherrschenden Bildhauer Phidias und Polyktet an. Sie werden als weise bezeichnet auf Grund der „Vollendetheit ihres Könnens“ (ebd.).

Die Weisheit kommt im umfassenden Sinn und im Teilsinn vor, ähnlich der universalen und partikularen Gerechtigkeit. Dies ist so zu interpretieren, daß ein Mensch entweder nur auf einem einzelnen Gebiet weise ist oder auf vielen. Die Weisheit tritt in allen Abstufungen auf, von vollendeten Meistern, wie  z.b. Phidias, bis zum absoluten Dummkopf, wie z.b. im homerischen Gleichnis des Margerites.

Nach Aristoteles ist nicht nur die Vollendung eines Könnens, sondern auch die Vollendung der Erkenntnis Indiz für Weisheit. Am Beispiel der wissenschaftlichen Erkenntnis hätte der Weise gleichermaßen von Induktion und Deduktion, als auch „von diesen obersten Sätzen ein sicheres Wissen“ (ebd.), die als Ausgangspunkt für Induktion und Deduktion dienen. Die philosophische Weisheit ist demnach „eine Verbindung von intuitiven Verstand und diskursiver Erkenntnis“, „Wissenschaft von den erhabensten Seinsformen, Wissenschaft sozusagen in Vollendung“ (beide Textstellen: NE, 1969, 1141a 19 – b3).

Der philosophischen Weisheit kommt der höchste Rang unter den fünf Grundformen für Erkenntnis zu, da sie den universellsten Charakter hat. Ihre Objekte ändern sich in Abhängigkeit von ihrer Bezogenheit nicht. Aristoteles führt hier ein Beispiel an: „Wenn nun >>gesund<< oder >>wertvoll<< für Mensch und Fisch etwas anderes ist, >>weiß<< dagegen oder >>gerade<< immer dasselbe bedeuten, so werden wohl alle sagen: philosophische Weisheit ist immer dasselbe, sittliche Einsicht dagegen immer verschieden.“ (ebd.). Dieser Gedankengang wird von Dirlmeier verdeutlicht: „Begriffe wie gesundheitsfördernd (A) ändern sich je nach ihrer Bezogenheit; weiß (B) aber ist immer weiß. Phronesis [=Klugheit bzw. Einsicht] hat es mit Objekten wie (A) zu tun, sophia [Weisheit] mit solchen vom Typus (B) [...]. Man darf also nicht Weisheit mit Einsicht gleichsetzen. Das würde bedeuten: da es mehrere Einsichten gibt, gibt es mehrere Weisheiten [...] – dann gäbe es mehrere absolute Wahrheiten.“ (Grumach, 1956, S. 453).

Die philosophische Weisheit hat den Charakter des Ewigen und Unveränderlichen. Ihre Erkenntnisse sind objektiv und sind deshalb für jeden gültig. Deshalb wird sie auch als die oberste Wissenschaft angesehen. Die Klugheit hat dagegen den Charakter der praktischen Zweckdienlichkeit, ist aus diesem Grund subjektiv und damit veränderlich. Aristoteles hält manche Tiere für klug, da sie „die Fähigkeit der Voraussicht für die Erhaltung ihres Lebens“ (ebd.) haben. Auch die Staatskunst hat eher den Charakter der Klugheit und nicht den der philosophischen Weisheit. Nach Aristoteles gäbe sonst viele Spielarten solcher Weisheit, wolle man die Geschichtlichkeit eines Menschen in der Wahrnehmung seiner Vorteile als philosophische Weisheit bezeichnen (ebd.). Dem liegt zu Grunde, daß es für jedes Einzelwohl eine Einzelwissenschaft gibt, z.b. in der Heilkunst verschiedene Therapien. Dieser Gedanke ist analog zum ersten Buch, in dem das Gut als etwas Individuelles und nicht als Allgemeines definiert wurde.

Es stellt sich die Frage, ob der philosophischen Weisheit als die höchste Wissenschaft der Mensch als das höchste Wesen entspricht. Der Mensch müßte „von jener Struktur wie [..] die Objekte der sophia“ (Grumach, 1956, S. 454), d.h. im höchsten Grade ewig und unveränderlich, sein. Dies trifft jedoch nicht zu, da es Existenzformen gibt, die diesen absoluten Kriterien näher kommen, wie z.b. der Kosmos. Der Kosmos übertrifft „den Menschen an göttlichen Kriterien“ (NE, 1969, 1141a 19 – b3) um ein Vielfaches. Dieser Theorie liegt die antike Ansicht zu Grunde, daß zwei oder mehrere Wahrheiten (z.b. der Menschen als höchste (lebende) Existenz und der Kosmos als höchste (unbelebte) Existenz) nicht nebeneinander existieren können.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß die philosophische Weisheit „wissenschaftliche Erkenntnis wie intuitives Verstehen der ihrer Natur nach erhabensten Seinsformen“ (ebd.) darstellt. Sie grenzt sich jedoch von wissenschaftlicher Erkenntnis, Klugheit und Geist (nous) ab. Als letztes Beispiel führt Aristoteles die Denker Anaxagoras und Thales an, „deren philosophische Weisheit ebenso unbestritten ist wie ihre Weltfremdheit“ (NE, 1969, S.332).

 

Aristoteles geht im achten und neunten Kapitel nochmals auf die Klugheit im Allgemeinen und Besonderen ein. Ausgangspunkt ist der phrasenhaft verwendete Ausdruck „niemand aber geht mit sich zu Rate“ (NE, 1969, 1141b 3 – 22). Dirlmeier und Schmidt merken dazu in ihren Kommentaren an, daß der mehrmals angewandte Ausdruck in drei Schritten eingrenzt wird. Zum ersten geht niemand mit sich zu Rate über das, was keine Veränderung zu läßt. Der zweite Schritt schließt ein Nachdenken über Dinge aus, zu deren Ausführung man keine Möglichkeit hat. Im dritten Schritt, der im achten Kapitel eingeführt wird, wird Nachdenken über utopische Dinge „die eines echten Ziels entbehren“ (ebd.) ausgegrenzt. Ein kluger Mensch handelt nur gemäß echter Ziele, die er erreichen kann.

Von dieser allgemeinen Erläuterung kommt Aristoteles zum von der Klugheit gelenktem Handeln, das sich durch einzelne Handlungsakte manifestiert. Aristoteles trennt dazu das allgemeine theoretische Hintergrundwissen vom konkreten Erfahrungswissen. Der klug Handelnde benötigt nicht unbedingt Hintergrundwissen; oft reicht schon ein oberflächliches Erfahrungswissen, um sich im Leben nach dem persönlichen Vorteil handeln zu können. So kann auch nach Aristoteles z.b. jemand einen Heilerfolg erzielen, wenn er nur weiß, daß Geflügelfleisch gesund ist. Das Hintergrundwissen, daß das Fleisch auf Grund seiner leichten Verdaulichkeit gesund ist, ist in diesem Fall für den Heilerfolg nicht ausschlaggebend. Um klug Handeln zu können, benötigt man folglich in hohem Anteil ein auf das Spezielle, Besondere gerichtete Wissen, das beim Handeln konkret nützlich ist, zum geringen Teil allgemeines Hintergrundwissen, das Zusammenhänge erläutert.

Die übergeordnete Wissenschaft der Klugheit ist die Staatskunst, da sie zur selben Grundhaltung gehört und sich auf einen übergeordneten, allgemeinen Rahmen bezieht. Dirlmeier merkt dazu an:

 

Ar. [Aristoteles] mußte der Phronesis das Gebiet der Einzelhandlungen zuweisen [...]. Aber ein Platoniker empfindet dies wie einen Verzicht auf das Höchste [...]. Und so meint Ar. folgendes: Ich habe soeben gesagt, man müsse eher die partikulare Phr. haben als die universale; aber ich möchte in Erinnerung bringen, in welchen Rahmen sich diese partikulare Phronesis auszuwirken hat: es ist die Polis. Und an deren Spitze steht [...] auf jede Fall etwas Übergreifendes, etwas das den Charakter eines Planes hat, der jegliches Einzelne umfaßt: die Wissenschaft von dem Organismus „Polis“. (Grumach, 1956, S. 456)

 

Aristoteles unterscheidet innerhalb der Staatskunst die Gesetzgebung als übergeordnete Kunst und die allgemein bezeichnete „Einsicht in Dingen der Staatsführung“ (NE, 1969, 1141b 22- 1142a 6) als untergeordnete Kunst, die das konkrete Handeln wie z.b. das Ausführen von Gesetzen und Staatsbeschlüsse und die Beratung als Funktion hat. Die Gesetzgebung als oberste und erste Instanz leitet dabei das Handeln der Politiker, die –ähnlich Handwerkern– Anweisungen der übergeordneten Instanz in praktischen Einzelhandlungen ausführen. An dieser Stelle wird die streng hierarchische Denkweise von Aristoteles deutlich, da er sich um eine genaue Differenzierung des Rangs der Einsichten bemüht.

Aristoteles unterscheidet in diesem Zusammenhang verschiedene Nomenklaturen. Man spricht dabei von Klugheit bzw. allgemein Einsicht, wenn sich die Einsicht auf Dinge bezieht, die nur für die eigene Person relevant sind. Über diesen Rahmen hinaus geht die Einsicht in der Führung des eigenen Haushalts und auf der Polis-Ebene in der Gesetzgebung und Staatsführung. Die Staatsführung hat die Aufgabe der Beratung und Mitwirkung bei der Rechtspflege.

 

Das neunte Kapitel beginnt mit der Bewertung der Zwecke der Einsicht, die nach einem privaten Nutzen und einem öffentlichen Nutzen unterschieden werden. Dabei kommt Aristoteles zu der Feststellung, daß Leute, die sich zum öffentlichen Vorteil betätigen, oft als vielgeschäftig bezeichnet werden. Den Grund für eine solche Stimmung sieht Aristoteles in der egoistischen Haltung der Leute, die jedem, der nicht nur nach seinem eigenen Wohl strebt, Klugheit absprechen. Aristoteles wendet sich gegen eine solche Haltung, da „das eigene Wohl kaum denkbar ohne geordnete Führung des Hauswesens und des Gemeinwesens“ (NE, 1969, 1142a 7 – 26) ist. Es „läßt sich das geschickte Verfolgen des eigenen Vorteils nicht so von den Gegebenheiten des Gemeinwohls trennen, daß man im Egoismus die Tugend erblicken dürfte.“ (Grumach, 1956, S. 458). Dirlmeier merkt an, daß deshalb Aristoteles den gemeinen Politiker vor dem platonischen Urteil der Vielgeschäftigkeit in Schutz nimmt. Aristoteles plädiert demnach für ein Handeln im Sinne des öffentlichen wie auch des privaten Nutzens, um einen möglichst großen persönlichen Vorteil zu haben.

Dieses einsichtige Handeln ist jungen Menschen noch nicht möglich, da ihnen auf Grund ihres Alters die Erfahrung für richtige Einzelentscheidungen fehlt. Sie können zwar genauso wie alle anderen Menschen sich wissenschaftlich bilden (z.b. in der Mathematik) aber sie haben keine Lebenserfahrung und damit keine Möglichkeit zum klugen Handeln. Dieser Zusammenhang wurde zum ersten Mal im ersten Buch, Kapitel 1 vorgestellt.

 Ohne Erfahrung ist genauso wie ohne Wissen im Bereich der Wissenschaften auch leichter ein Irrtum möglich. Der Irrtum kann allgemein sein oder sich auf einen konkreten Einzelgegenstand bzw. eine einzelne Handlung beziehen. Ein Beispiel für den allgemeinen Irrtum wäre die Annahme, daß man mit dem Medikament Aspirin jede Krankheit heilen kann. Hingegen wäre die Verwechslung von zwei Medikamenten, weil z.b. die Verpackung verloren gegangen ist und der junge Arzt die Medikamente an ihrer Farbe und Form auf Grund mangelnder Erfahrung noch nicht unterscheiden kann, ein spezieller, sich auf das Einzelne beziehender Irrtum. In beiden Fällen ist das Resultat ein gesteigertes Risiko des Therapiemißerfolgs.

In diesem Zusammenhang grenzt Aristoteles nochmals die Klugheit von der Wissenschaft ab. Sie unterscheiden sich auf Grund des Bezugs zu ihren Objekten. Klugheit bezieht sich mehr auf das Einzelne, was sich in der Aufgabe der Klugheit, dem konkreten Handeln, ausdrückt. Wissenschaftliche Erkenntnis hat den Bezug zum Allgemeinen.

Der Geist, durch den die Ausgangspunkte unseres Wissens geschaffen werden, beschäftigt sich mit den der Klugheit entgegengesetzten Dingen. Der Geist „hat es mit den obersten begrifflichen Setzungen zu tun, die eine weitere Erklärung nicht mehr zulassen“ (NE, 1969, 1142a 26). Die Klugheit „dagegen geht auf das letztlich gegebene Einzelne, von dem es keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Wahrnehmung gibt – allerdings nicht so, wie bestimmte Sinne auf spezielle Objekte beschränkt sind, sondern so, wie wir in der Mathematik wahrnehmen, daß dieses letztlich Gegebene ein Dreieck ist“ (NE, 1969, 1142a 26 – b8). Schmidt spricht hier von einem „intuitiven Erfassungsakt, ähnlich dem, mit dem wir das Urteil über etwas durch einen speziellen Sinn (z.B.: Augen) Wahrgenommenes aussprechen: >>Das ist ein Dreieck<<“ (NE, 1969, S.333). Dirlmeier merkt an, daß der Erfassungsakt der Klugheit dem des Geistes ähnlich ist, da beide intuitiv sind. Man muß jedoch berücksichtigen, daß die Objekte der Klugheit veränderlich sind und man deshalb nicht von einem „noêthischen“ (Grumach, 1956, S.459) Erfassungsakt, der sich nur auf die geistige Wahrnehmung bezieht, sprechen kann. Von diesem plötzlichen Erfassungsakt unterscheidet sich die Erkenntnis in der Wissenschaft, die über „Zwischenstationen des diskursiven Denkens“ (ebd.) stattfindet.

 

Die Nikomachische Ethik mit ihrer ethischen und dianothischen Tugendlehre darf in der heutigen Zeit nicht als Verhaltensnorm interpretiert werden. Sie soll vielmehr Anlaß sein, uns selbst über unsere ethische Vorgehensweisen Gedanken zu machen und uns dadurch die Komplexität der Ethik wenigstens ansatzweise zu verdeutlichen.

 

 


 

Literaturverzeichnis

 

Aristoteles (1951): Nikomachische Ethik (Auflage 1962), Oxford (Clarendon Press), mit einem Kommentar von H.H. Joachim

 

Aristoteles (1969): Nikomachische Ethik (Bibliographisch ergänzte Auflage 1983), Stuttgart (Reclam); mit Anmerkungen von Ernst A. Schmidt

 

Grumach, Ernst (Hrsg.) (1956): Aristoteles Werke, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Bd. 6 Nikomachische Ethik, mit einem Kommentar von F. Dirlmeier

 

Überweg, Friedrich (1983): Grundriss der Geschichte der Philosophie (1.Auflage), Basel/Stuttgart (Schwabe & Co AG Verlag), Bd. 3 Ältere Akademie Aristoteles - Peripatos


 

[1] Vgl. ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam, 1969, 1139a 1-22

[2] In: GRUMACH, Ernst: Aristoteles Werke Bd. 6 Nikomachische Ethik, Darmstadt: Wissenschaftliche

  Buchgesellschaft, 1956, S. 448

[3] Vgl. ÜBERWEG, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie Bd. 3, Basel: Schwabe & Co, 1983,   

  S.245

[4] Vgl. ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, Oxford: Clarendon Press, 1951, S. 198

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Stand: 09. Oktober 2002.